Scheinselbständigkeit und § 266a StGB bei Rechtsanwälten?

Der BGH hat in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung (1 StR 188/22, Urteil vom 8. März 2023) die Verurteilung eines Rechtsanwalts nach § 266a StGB bestätigt. Diesem war vorgeworfen worden, im Rahmen eines Modells der freien Mitarbeit Rechtsanwälte beschäftigt zu haben, welche tatsächlich abhängig Beschäftigte gewesen seien. Der BGH nutzt die Entscheidung grundlegend, um die etablierten Kriterien der Abgrenzung eines Selbstständigen von einem abhängig Beschäftigten (erstmals) am Beispiel von Rechtsanwälten näher darzulegen. Zudem widmet sich der Senat ausführlich den Anforderungen an die Darstellung der Schadensberechnung und weiteren materiellrechtlichen Fragen des § 266a StGB.

Wir stellen das Urteil - das immerhin in die amtliche Sammlung eingehen soll - näher vor.

Dr. Jan Philipp Book
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht

Ausgangspunkt: das „Modell freier Mitarbeit“


Dem angeklagten Rechtsanwalt war vorgeworfen worden, mehrere Rechtsanwälte im Rahmen eines Modells der freien Mitarbeit beschäftigt zu haben. Dies erfolgte auf Grundlage eines „Freien Mitarbeitervertrags“, welcher den Rechtsanwälten erlaubte, eigenes Personal zu beschäftigen und selbst zu werben. Daneben gab es (in einigen Fällen) eine Zusatzvereinbarung, welche dies wiederum von der Zustimmung der Kanzlei abhängig machte. Der Angeklagte wies den Rechtsanwälten die zu bearbeitenden Fälle zu. Diese übten ihre Tätigkeit ausschließlichen in den Kanzleiräumen aus. Die Kosten der Kanzleiinfrastruktur trug allein der Angeklagte. Die beschäftigten Rechtsanwälte erhielten eine Jahreshonorar in zwölf Teilbeträgen, welches von dem erzielten Umsatz und der geleisteten Tätigkeit unabhängig war. Die Rechtsanwälte zahlten selbst Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung.

 

Wann arbeitet ein Rechtsanwalt selbstständig?


Das Landgericht hatte die Tätigkeit der in Rede stehenden Rechtsanwälte als abhängige Beschäftigung gewertet und den Angeklagten wegen des Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen verurteilt. Dies bestätigt der Senat dem Grunde nach. Einleitend betont der BGH geradezu lehrbuchartig die (etablierten) Grundsätze zur Abgrenzung der abhängigen Beschäftigung eines Arbeitnehmers von Selbstständigen (BGH, 1 StR 188/22, Urteil vom  8. März 2023, Rn. 12); entscheidend sei auf die tatsächlichen Gegebenheiten der „gelebten Beziehung“ abzustellen. Diese Grundsätze seien auch auf den Beruf des Rechtsanwalts übertragbar. Aufgrund der Eigenart des Rechtsanwaltsberufs könnten allerdings die Kriterien einer Eingliederung den fremden Betrieb und der Weisungsgebundenheit an „Trennschärfe und Aussagekraft“ verlieren. Daher komme der Verteilung des unternehmerischen Risikos erhöhte Bedeutung zu (Rn. 13):

 
In diesen Fällen ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen. Insoweit ist vor allem entscheidend, ob die Tätigkeit mit einem – gegebenenfalls pauschalierten – Verlustrisiko belastet ist und deshalb einer Gewinnbeteiligung gleichkommt oder ob sie lediglich als Gegenleistung für geschuldete Arbeitsleistung anzusehen ist.

 

Unternehmerrisiko?


Im konkreten Einzelfall sei zum einen ein erhebliches Maß an Weisungsgebundenheit festgestellt worden. Diese habe sich auf die Arbeitszeiten sowie Art und Inhalt der ausgeführten Tätigkeiten erstreckt. Gerade die Arbeitszeiten habe der Angeklagte überwacht und Fehlzeiten im Einzelfall auch beanstandet. Zum anderen sei die Berücksichtigung der unternehmerischen Risikoverteilung durch das Landgericht nicht zu beanstanden:

 
Vor allem durfte das Landgericht seine Wertung rechtsfehlerfrei mit dem für die höheren Dienste zentralen Kriterium des Unternehmerrisikos, das hier fehlte, und der Art der Vergütung begründen. Es hat zutreffend insoweit darauf abgestellt, dass der Angeklagte den Rechtsanwälten für ihre volle Arbeitskraft faktisch ein festes Jahresgehalt auszahlte, dessen Höhe gänzlich unabhängig vom Gewinn und Verlust der Kanzlei und – insbesondere – der von ihnen erbrachten Arbeitsleistung war.

Entsprechend bestätigt der BGH den Schuldspruch.

 

Keine Strafbarkeit bei Fehlen eine Versicherungspflicht


Weiter betont der BGH, dass die Strafbarkeit nach § 266a StGB materiellem Sozialrecht folge. Sofern eine Versicherungspflicht entfalle, bleibe auch kein Raum für eine Strafbarkeit. Dies galt für diejenigen Rechtsanwälte, die wegen Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze keiner Versicherungspflicht in Kranken- und Pflegeversicherung unterlagen. Insofern sei eine Gefährdung des Beitragsaufkommens – als des geschützten Rechtsguts der Vorschrift des § 266a StGB – ausgeschlossen.

 

Kein Wegfall des Tatbestandes durch Zahlungen der Rechtsanwälte


Im Folgenden hebt der BGH hervor, dass die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, welche von den angeblich freiwillig versicherten Rechtsanwälten selbst gezahlt worden sind, den Tatbestand des § 266a StGB nicht entfallen lassen.

 
Das Vorenthalten im Sinne des § 266a Abs. 1 StGB ist mit der schlichten Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen erfüllt […]. Den Eintritt eines Schadens verlangt der Wortlaut der Norm nicht. Zwar können Beitragszahlungen, die ein Dritter aufgrund einer mit dem Arbeitgeber getroffenen Vereinbarung leistet, den Tatbestand entfallen lassen […]. Jedoch sind Schwarzarbeiter und illegal Beschäftigte keine Dritten im Sinne der vorstehenden Rechtsprechung. (Rn. 25)

Die geleisteten Zahlungen seien erst auf Strafzumessungsebene zu berücksichtigen.

 

Rechtsfolgenseite: unzureichende Darstellung im Urteil


Der BGH hat das tatgerichtliche Urteil sodann mit Blick auf die Rechtsfolgenseite aufgehoben. Denn schon die Hochrechnung der Netto- auf die Bruttovergütung sei nicht nachvollziehbar. Der BGH nutzt die Entscheidung zunächst, um die Anforderungen an die tatrichterliche Darstellung erneut zu betonen (Rn. 27):

 
Bei der Strafvorschrift des § 266a StGB obliegt es dem Tatgericht grundsätzlich, die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge für die Fälligkeitszeitpunkte gesondert nach Anzahl, Beschäftigungszeiten, Löhnen der Arbeitnehmer und der Höhe des Beitragssatzes der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen, weil die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des Arbeitsentgelts nach den Beitragssätzen der jeweiligen Krankenkassen sowie den gesetzlich geregelten Beitragssätzen der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu berechnen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2022 – 1 StR 511/21 Rn. 23). Wenn die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer im konkreten Fall bekannt sind, muss der Umfang vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge anhand der Lohnsteuerklasse der Arbeitnehmer ermittelt werden.

Dem sei das Landgericht nicht gerecht geworden, da die Einzelheiten der Berechnung nicht für das Revisionsgericht nachvollziehbar dargelegt worden seien. Das Landgericht hatte insoweit nicht mitgeteilt, wie die Berechnung im Einzelnen erfolgt war, sondern sich im Wesentlichen auf die Angaben des als Zeugen vernommenen Mitarbeiters der Rentenversicherung bezogen. Dies kann auch durch einen Verweis auf Urkunden nicht geheilt werden. Vielmehr müssen dem Urteil selbst die maßgeblichen Faktoren und Berechnungswege zu entnehmen sein.

 

Zusammenfassung


Die Entscheidung wendet grundsätzlich etablierte Kriterien auf Modelle einer freien Mitarbeit bei Rechtsanwälten an. Angesichts des Fehlen jeden unternehmerischen Risikos erscheint der Schuldspruch nachvollziehbar. Konstellationen, in denen ein gemindertes unternehmerisches Risiko festzustellen ist, werden da schon schwieriger zu entscheiden sein.

Die Entscheidung lenkt darüber hinaus den Blick darauf, dass die Darstellungsanforderungen an die Tatgerichte weitreichend sind. Gerade in der Revision – gegebenenfalls aber auch früher – ergeben sich hieraus Angriffspunkte. Die bloße Übernahme von angeblichen Feststellungen der Sozialversicherungsträger genügt insofern keineswegs. Auch und gerade in den Details der Strafzumessung sind darüber hinaus die sozialrechtlichen Vorgaben präzise zu berücksichtigen.

 

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