EncoChat-Daten als digitale Beweismittel

In einer großangelegten Operation haben französischen Behörden im Frühjahr 2020 heimlich den vollständigen Chatverkehr aller über 32.000 EncroChat Nutzern überwacht und gespeichert. Hiervon sind alleine in Deutschland über 3.000 Nutzer betroffen. Das Bundeskriminalamt wertet entsprechende Kommunikation sukzessive aus und gibt bei strafrechtlichen Verdachtsmomenten entsprechende Verfahren an die Landeskriminalämter ab. Auf dieser Grundlage erfolgen weitere Ermittlungen, die nicht selten zu Durchsuchungsmaßnahmen und auch Haftbefehlen führen. Nach Veröffentlichungen des BKA werden derzeit 900 Haftbefehle auf dieser Beweisgrundlage vollstreckt. Vermögensarrestmaßnahmen wurden in Höhe von über 250 Millionen Euro vollzogen. Die Gerichte bemühen sich um die Einrichtung zusätzlicher Strafkammern.

Als Verteidiger in dieser Verfahrenssituation sehen wir uns zunächst einer abgeschlossenen Verfahrenslage gegenüber, die in den meisten Fällen eine erdrückende Beweislage suggeriert. Hier gilt es, ein taktisches Verteidigungskonzept zu erstellen, das sich auf die Bereiche rechtliche Verwertbarkeit der Daten, Zuverlässigkeit der vermeintlichen Identifizierung und Datenvalidität erstreckt.

Wir befassen uns intensiv mit dieser Problematik, bilden in diesem Bereich Kollegen aus, forcieren den rechtlichen Diskurs durch entsprechende Fachveröffentlichungen und stehen in ständigem Austausch mit anderen ebenfalls entsprechend spezialisierten Kollegen.

Rechtliche Verwertbarkeit

Aus unserer Sicht ist die Frage der Verwertbarkeit der entsprechenden Daten untrennbar mit der Frage der genauen Herkunft der Daten verknüpft. In den von uns geführten Verfahren bemühen wir uns intensiv darum, den konkreten Gewinnungsprozess im Rahmen der durch die französischen Behörden geführten operativen Maßnahmen zu klären.

Keine Legitimation der Einzelmaßnahme nach deutschem Prozessrecht

Die Frage der Verwendbarkeit der Daten im bundesdeutschen Strafprozess hängt maßgeblich davon ab, ob entsprechende Maßnahmen auch durch die hiesigen Behörden hätten durchgeführt werden dürfen. Nach dem derzeitigen Stand der vorliegenden Informationen wurden nicht nur Daten erhoben, die im Rahmen einer QuellenTKÜ nach deutschem Prozessrecht ermittelbar gewesen wären. Vielmehr wurden durch die französischen Behörden durch „Geräte-Hacks“ auch Daten generiert, die weit darüber herausgehen (beispielsweise chatunabhängige Bewegungsprofile). Eine solche Maßnahmenkombination ist nach unserer Ansicht unzulässig. Entsprechende Erkenntnisse sind nicht verwertbar.

Unzulässigkeit der Gesamtmaßnahme nach deutschem Recht

Darüber hinaus wurde die französische Ermittlungsoperation in einem Umfang durchgeführt, der nach hiesigen Ermächtigungsgrundlagen nicht denkbar wäre. Da die Verwendung der Daten in hiesigen Verfahren die Zulässigkeit eines entsprechenden „hypothetischen Ersatzeingriffs“ erfordert, kann in Hinblick auf die Komplettausforschung von mehr als 32.000 Nutzern ein solcher nicht mehr ansatzweise als vertretbar betrachtet werden. Diese Ansicht vertreten auch ein Teil der hiesigen Oberlandesgerichtsentscheidungen.

„Befugnis-Shopping“

Die deutschen Oberlandesgerichte verweisen in diesem Zusammenhang regelmäßig auf eine beschränkte Prüfungspflicht, da die Maßnahmen der französischen Behörden hier anzuerkennen seien. Die genauen zwischenstaatlichen Vorgänge sind indes noch nicht aufgeklärt. Neue Aussagen sprechen dafür, dass die deutschen Behörden vor Beginn der Maßnahmen nicht nur informiert waren, sondern eine schriftliche Zustimmung erteilt haben, ohne die die französischen Maßnahmen nicht in diesem Umfang begonnen hätten. Sollte dies zutreffen, läge die Annahme einer bewussten Umgehung hiesiger Vorschriften und damit eine Durchbrechung der Anerkennungspflicht nahe.

Zweifel an Rechtsmäßigkeit auch in Frankreich

Auch in Frankreich bestehen nach wie vor Zweifel, ob die Maßnahmen auch nach dortiger Rechtsprechung verfassungsgemäß sind. Das höchste französische Spruchgericht hat eine Sache dem französischen Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt. Eine solche Entscheidung soll bis Anfang Mai ergehen. Würde das dortige Verfassungsgericht die Datengewinnung für verfassungswidrig erklären, käme eine Verwertung durch deutsche Gerichte nicht mehr in Betracht.

Grundrechtliche Bedenken

Von der Maßnahme waren mehr als 3.000 Nutzer in Deutschland betroffen. Bezüglich dieser Nutzer bestand zum Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahmen kein ausreichender konkreter Verdacht einer Straftat. Allein die Nutzung einer end-to-end verschlüsselten Kommunikation über eine als besonders sicher konzipierte Konfiguration kann aus unserer Sicht noch keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine entsprechende grundrechtsintensive heimliche Ausforschungsmaßnahme bilden.

Fehler in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit

Schließlich haben wir erhebliche Bedenken, ob der Ablauf der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit sich im Rahmen der rechtlichen Zulässigkeit bewegte. So wäre aus unserer Sicht eine frühzeitige Stellung einer Europäischen Ermittlungsanordnung erforderlich gewesen. Eine solche wurde zwar getroffen, aber aus unserer Sicht zu einem weitaus späten Zeitpunkt.

Keine ausreichende Unterrichtung

Die französischen Behörden haben die vorgeschriebene rechtzeitige vorherige Unterrichtung der bundesdeutschen Stellen zudem unterlassen. Wäre dies der Fall gewesen, wären die Bundesrepublik angesichts eines fehlenden konkreten Tatverdachts und der fehlenden rechtlichen Ermächtigungsgrundlage für die Gesamtmaßnahme zum Widerspruch verpflichtet gewesen, was zu einer Ausnahme der deutschen Nutzer aus der Überwachungsoperation geführt hätte. Diese nicht mehr hinnehmbare Verletzung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien durch verdachtslose und über die gesetzliche Ermächtigung hinausgehende Komplettausforschung aller Nutzer führt zu einem Beweisverwertungsverbot.

Fehlender Zugang zu Rohdaten und Maßnahmendokumentation

Aufgrund einer Geheimhaltungsverfügung sind der Verteidigung weder die ursprünglich gewonnenen Daten, noch Unterlagen zur Dokumentation der technischen Umsetzung zugänglich. Dies bedeutet, dass die hiesigen Verfahrensbeteiligten keinerlei Überprüfungsmöglichkeit haben, ob die Daten mit zu erforderlichen Zuverlässigkeit technisch gewonnen und verarbeitet wurden. Diese fatale Beschränkung der Rechtsposition verhindert für die Beteiligten in unzulässiger Weise jede technische Verifizierungsmöglichkeit. Ein Beleg für die Authentizität und Validität der Daten ist daher nicht vorhanden.

Keine Verwendbarkeit und Verwertbarkeit

Insgesamt dürfte eine Verwendung und Verwertung der EncroChat-Daten daher aus unserer Sicht – dies vertreten wir auch in von uns angebotenen Anwaltsfortbildungen und Veröffentlichungen – unzulässig sein.

Aus der Fachliteratur:


  • Pauli: Zur Verwertbarkeit der Erkenntnisse ausländischer Ermittlungsbehörden, NStZ 2021, 146
  • Diaz: Anm. zu OLG Bremen, jurisPR-StrafR 10/2021, 1
  • Nadeborn/Kempgens: Anm. zu OLG Hamburg, jurisPR-StrafR 12/2021, 4
  • Stehr/Rakow: Anm. zu OLG Hamburg und OLG Bremen, StRR 4/2021, 6
  • Derin/Singelnstein: Verwendung und Verwertung von Daten aus massenhaften Eingriffen in informationstechnische Systeme aus dem Ausland (Encrochat), NStZ 2021, 449
  • Sommer: EncroChat – ein Kapitel in der Geschichte des zerbröselnden europäischen Strafprozesses, StV Spezial 2021, 67
  • Derin/Singelnstein: »Encrochat« – Verwendung durch verdachtsunabhängige Massenüberwachung im Ausland erlangter Daten in deutschen Strafverfahren, StV 2022, 130-135

Bisherige Gerichtsentscheidungen

Die Oberlandesgerichte haben sich in verschiedenen Haftentscheidungen oberflächlich und vorläufig mit der Problematik befasst und die Daten zunächst als verwertbar angesehen. Demgegenüber hat das Landgericht Berlin in einer Entscheidung vom 01.07.2021 wegen der Unverwertbarkeit der Daten die Eröffnung eines Hauptverfahrens abgelehnt und den Haftbefehl aufgehoben. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wurde diese Entscheidung durch das Kammergericht aufgeboben.

Zwischenzeitlich lliegen Entscheidungen von zwei Strafsenaten des Bundesgerichtshofs vor. Der 6. Senat bejaht in einem kurzen sog. Obiter Dictum die Verwertbarkeit ohne jede eigene Begründung und verweist auf die Entscheidung des Kammergerichts. Die umfangreiche Entscheidung des 5. Senats vom 25.03.2022 geht nun ebenefalls von einer Verwertbarkeit aus. Rechtlich und tatsächlich verbleiben gleichwohl zahlreiche offene Fragen, sodass nach wie vor gewichtige Argumente gegen die Verwertbarkeit sprechen. Zum einen lässt der Bundesgerichtshof noch umberücksichtigt, dass die deutschen Behörden – wie sich erst kürzlich herausgestellt hat – der Datenerhebung in Frankreich zugestimmt und damit die hiesigen strafprozessualen Vorgaben bewusst umgangen hat. Zum anderen steht eine Entscheidung des französischen Verfassungsgerichts aus, welches über die Zulässigkeit der Datenerhebung nach Französischem Recht zu entscheiden hat. Leztlich werden sich auch das deutsche Verfassungsgerichts und die Europäischen Instanzen mit den rechtlichen Problemen zu befassen haben.

Verteidigung in EncroChat Fällen

Die Verteidigung in EncroChat Verfahren erweist sich als ausgesprochen komplex. Häufig werden wir daher derzeit von Mandanten und bereits tätigen Kollegen in entsprechende Verfahren involviert.

Ausgehend von einer vertieften Befassung mit den technischen Hintergründen des Systems und der französischen Ermittlungsoperation gilt es, auf eine eingehende Aufklärung der konkreten technischen Maßnahmen und verfahrensmäßigen Hintergründe hinzuwirken.

Aufbauend darauf sind die rechtlichen Fragen und Schwierigkeit in geeigneter Form im Verfahren geltend zu machen. Hierfür bieten sich verschiedene Anträge und letztlich die Erhebung eines Verwendungs- und Verwertungswiderspruchs an.

Die Verteidigung gegen digitale Beweisdaten aus den EncroChat  – Ermittlungen beschränkt sich aber nicht nur auf diese rechtlichen Fragen. In tatsächlicher Hinsicht lassen sich häufig Angriffspunkte gegen die Frage der Identifizierung – also ob es sich bei dem Nutzer überhaupt um den Beschuldigten handelt – analysieren und vortragen. Letztlich wird nach vertiefter Befassung mit den technischen Hintergründen auch die Datenvalidität in Frage stehen. Hier gilt es, Angriffspunkte herauszuarbeiten, die den Aussagegehalt der Daten relativen oder aufheben.

Wir sind Strafverteidiger.

Jeder EncroChat-Fall ist für uns von besonderem Interesse. Als Verteidiger gilt es, die rechtlichen und tatsächlichen Probleme vor Gericht geltend zu machen. Dies reicht von der Aufklärung der tatsächlichen und verfahrensmäßigen Hintergründen der Operation des Joint Investigation Teams aus niederländisichen und frnazösischen Behörden über die geeeignete Geltendmachung der rechtlichen Verwertungsprobleme bis zur Verteidigung gegen die Identifizierung und Datenvalidität.

Fachaustausch innerhalb der Anwaltschaft

Die Konstellation der EncroChat-Verfahren ist für alle Beteiligten ein weitgehend neue Materie, die sich dynamisch im Laufe der Zeit fortschreiben wird. Viele Rechtsprobleme sind noch ungelöst und bedürfen sorgfältiger Argumentation und Diskussion. Gerade zu den technischen und rechtlichen Fragen ist uns der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen besonders wichtig. Wir freuen uns über jede Kontaktaufnahme und stehen für jeden Fachaustausch gerne zur Verfügung.

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