Durchsuchung von Anwaltskanzleien - das letzte Wort hat Straßburg

2015 hatte die Volkswagen AG die U.S. Kanzlei Jones Day mit der konzernweiten Aufklärung des „Diesel-Skandals“ und der Vertretung gegenüber dem U.S. Departement of Justice beauftragt. Gegenstand der anschließenden umfangreichen internen Untersuchungen waren auch die Vorgänge bei der Audi AG, da der Verdacht bestand, dass in den dort produzierten 3,0 Liter-Dieselmotoren ebenfalls eine unzulässige Software zur Reduzierung der Abgaswerte bei standardisierten Prüfverfahren implementiert worden war. Im Rahmen der internen Untersuchung wurden u. a. zahlreiche Mitarbeiter der Audi AG durch Anwälte von Jones Day befragt und firmeninterne Unterlagen ausgewertet.

Andreas Wattenberg

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht

Durchsuchung der Kanzleiräume von Jones Day


Im März 2017 erfolgte sodann eine Durchsuchung der Kanzleiräume von Jones Day durch die Staatsanwaltschaft München, in deren Verlauf das gesamte durch Jones Day produzierte Untersuchungsmaterial beschlagnahmt wurde, soweit es Unterlagen aus der Sphäre der Audi AG betraf. Beschwerden gegen die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse blieben erfolglos.

 

Verfassungsbeschwerden gegen die Maßnahmen


2018 hatte das Bundesverfassungsgericht schließlich in mehreren Beschlüssen Verfassungsbeschwerden der Kanzlei Jones Day (2 BvR 1583/17) bzw. einiger der dort tätigen Anwälte (2 BvR 1562/17) sowie weitere Verfassungsbeschwerden der Volkswagen AG ( 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17) gegen die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse des Amts- und Landgerichts München nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Verfassungsbeschwerden der Kanzlei und ihrer Anwälte


Soweit es die Verfassungsbeschwerden von Jones Day/Individualbeschwerden der beteiligten Anwälte betraf, fehlte es nach Auffassung des BVerfG bereits an einer verfassungsrechtlichen Beschwerdebefugnis. Bei der in den USA ansässigen Kanzlei handele es sich nicht um eine inländische juristische Person, die sich nach Art. 19 Abs. 3 GG allein auf den Schutz der materiellen Grundrechte berufen könne.

Die Verfassungsbeschwerde der individuellen Beschwerdeführer, Partner und angestellte Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day, wurde ebenfalls zurückgewiesen, weil deren verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 (Recht auf informationelle Selbstbestimmung), Art. 12 Abs. 1, Art. 13, Art. 14 Abs. 1 GG  nicht verletzt worden seien.

 

Verfassungsbeschwerde der Volkswagen AG


Auch die von der Volkswagen AG erhobene Verfassungsbeschwerde wurde durch das BVerfG nicht angenommen. Das BVerfG begründete diese Entscheidung u. a. mit der Erwägung, dass den Beschlagnahmebeschlüssen auch nicht das in § 160a Abs.1 Satz 1 StPO normierte generelle Beweiserhebungsverbot entgegen gestanden habe. Die Zulässigkeit der Beschlagnahme anwaltlicher Unterlagen richte sich vielmehr allein nach der Spezialnorm des § 97 Abs. 1 StPO. Das dort geregelte Beschlagnahmeprivileg betreffe jedoch ausschließlich Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den von ihm mandatierten Rechtsanwälten. Das von der Staatsanwaltschaft München geführte Ermittlungsverfahren richte sich jedoch nicht gegen die Volkswagen AG.

Auch das zum Zeitpunkt der Durchsuchung bereits bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig anhängige Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Volkswagen AG begründe nicht die Unzulässigkeit der Beschlagnahme der anwaltlichen Unterlagen. Insoweit, so das BVerfG, sei die Volkswagen AG durch das in § 160a Abs. 1 Satz 2 StPO normierte Verwendungsverbot geschützt, das nicht durch § 160a Abs. 5 StPO ausgeschlossen sei.

 

Verfahren vor dem EGMR


Der Blick voraus: Mit den zeitgleich ergangenen Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts haben die Durchsuchungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft München in den Kanzleiräumen von Jones Day jedoch noch nicht ihren Abschluss gefunden. Zwischenzeitlich befasst sich der EGMR mit zwei Beschwerden von Jones Day sowie einigen der dort beschäftigten Rechtsanwälte (1022/19 und 1125/19).

Allein der Umstand, dass der EGMR die Verfahrensbeteiligten zur Stellungnahme aufgefordert und die Beschwerden nicht, wie in der weit überwiegenden Zahl, als unzulässig zurückgewiesen bzw. gestrichen hat (Art. 27 Nr. 1, 28 Nr. 1.1. EMRK; Art. 54 Abs. 1 EGMR-VerfO), kann als Indiz dafür gewertet werden, dass sich der EGMR eingehend mit den Beschwerden befassen wird.

 

attorney-client relationship?


Der EGMR nimmt dabei den durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Schutz der Wohnung und Korrespondenz in den Blick und wirft insbesondere die Frage auf, inwieweit das Vertrauensverhältnis zwischen der Volkswagen AG und der von ihr beauftragten Anwaltskanzlei („attorney-client relationship“) durch die Durchsuchungsmaßnahmen beeinträchtigt worden sei. Dies schließe die Prüfung ein, ob auch die Audi AG als Tochtergesellschaft in das zwischen der Volkswagen AG und Jones Day begründete Vertrauensverhältnis einbezogen worden sei.

Der EGMR wirft ferner die Frage auf, ob die Auslegung der Durchsuchungs- und Beschlagnahmevorschriften (§§ 97, 103, 160a StPO) im vorliegenden Fall angesichts der divergierenden Rechtsprechung verschiedener Fachgerichte ausreichend vorhersehbar (forseeable in its application) war.

 

Notwendigkeit und Angemessenheit der Maßnahmen?


Klärungsbedürftig sei schließlich, ob die Durchsuchung der Kanzleiräume und anschließende Beschlagnahme von Unterlagen unter den in Art. 8 Abs. 2 EMRK geregelten Voraussetzungen notwendig und in der konkreten Durchführung auch angemessen gewesen sei. In diesem Zusammenhang komme der Reichweite des gesetzlich geregelten Berufsgeheimnisses  ebenso Bedeutung zu, wie der Frage, inwieweit die Durchsuchung der Anwaltskanzlei durch bestimmte dem Vertrauensverhältnis dienende Sicherungsmaßnahmen begleitet worden sei. Hierzu zählt der EGMR zum einen die Anwesenheit eines unabhängigen Beobachters (z. B. Mitglied des Kammervorstands) sowie eine möglichst präzise Fassung des Durchsuchungsbeschlusses.

Betrachtet man ferner die in der Veröffentlichung des EGMR bezeichneten Referenzfälle (u. a. André and another v. France), so besteht durchaus eine gewisse Hoffnung, dass das Gericht in Straßburg die Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen im Ergebnis anders beurteilen wird als das Bundesverfassungsgericht.

 

Ausblick: das letzte Wort hat Straßburg


Da die EMRK und dessen Auslegung durch den EGMR bei der Anwendung des Verfassungsrechts (BVerfGE 131, 286, 295) wie auch bei der Interpretation einfach gesetzlicher Vorschriften  zu berücksichtigen ist, hätte eine positive Entscheidung unmittelbare Auswirkungen auf die in der StPO geregelten Durchsuchungs- und Beschlagnahmevorschriften, soweit es  sich dabei um Maßnahmen handelt, die das geschützte Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandanten betreffen.

Es bleibt spannend.

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